269 Insanity

Immer häufiger hören wir aus unserem sozialen Umfeld, dass von uns durchaus geschätzte Personen Nachrichten, gleich welcher Art und gleich durch welches Medium übermittelt, konsequent ignorieren bzw. den Konsum jeglicher Meldungen komplett eingestellt haben. Sie halten den globalen gesellschaftlichen Irrsinn, der dort vermeldet wird, nicht mehr aus, so die übereinstimmende Begründung. 

Auch wenn wir diese Form des Eskapismus grundsätzlich nachvollziehen können, diskutieren wir in unserer Redaktion doch immer noch das globale und manchmal auch lokale Geschehen. Als abgebrühte Misanthropen und professionelle Schwarzseher müssen aber auch wir gestehen, dass so einiges an den weltweiten Entwicklungen und Vorkommnissen selbst uns irritiert zurück lässt. 

Nehmen wir zum Beispiel die jüngste Adidas-Kampagne für den neuen Retro-Sneaker SL 72. Er sollte an die Olympischen Spiele 1972 erinnern und die Inhouse-Marketingabteilung fand es eine gelungene Idee, diese Erinnerung unter anderem durch die Markenbotschafterin Bella Hadid auszudrücken. Die Journalistin Marlene Knobloch hat in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Irrsinn einen höchst anständigen Artikel verfasst…

Kopfschüttelnd mischen sich darüber hinaus ein: Meridian Brothers, Mare Advertencia Lirika & Tayhana, Young Miko & Jowell & Randy, BADSISTA, Karen y Los Remedios, Ali Kuru und Toy Selectah.

Quelle: Jilbert Ebrahimi

Bild: Jilbert Ebrahimi

268 Dependenztheorie & Multipolarität

Südkorea

Was sich heutzutage links nennt, besteht in der Hauptsache aus einer vulgären dichotomischen Weltsicht antiimperialistischer Prägung, die aus den 1980er Jahren hinübergerettet wurde. 
Die globalen ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 4 Jahrzehnte bleiben dieser Weltsicht verschlossen. 
Dazu treten universitäre postkoloniale Geschichtsdeutungen mit starkem Hang zur antisemitischen Hysterie sowie nach dem 7. Oktober ein Kulturmilieu, das, Arm in Arm mit der BDS-Bewegung, den Juden – soweit der sich nicht als Anti-Zionist versteht – aus dem öffentlichen und manchmal auch realen Leben entfernt sehen möchte. 
Progressive und emanzipatorische Denkrichtungen sind derzeit lediglich als Abwehrkämpfe präsent, so honorig sie auch im Einzelnen sein mögen.
In Bezug auf die globalen sozio-ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse basieren die erstgenannten Denkmodelle auf der simplifizierenden Annahme, dass weltweite Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse allein auf dem Gegensatz zwischen Norden und Süden, zwischen entwickelter und nicht entwickelter Welt, basieren. Dieser Gedankenkosmos fußt zu einem erheblichen Teil auf der sogenannten Dependenztheorie, einem Versuch aus den 1950er und 60er Jahren, die weltweiten riesigen Unterschiede in den Entwicklungen von Ländern oder ganzen Kontinenten zu erklären und zu kritisieren.

Die Dichotomien werden ebenfalls durchbrochen von: Congo Cowboys, BCUC, Mdou Moctar, Bombino, Lalalar und Peter Somuah.

266 Israelische Realitäten seit dem 7/10 – Vortrag von Oliver Vrankovic

Auch wenn wir in den Sendungen der Redaktion 17grad gemeinhin versuchen, die Waage zwischen stimmiger Musik und ebensolchen Textbeiträgen zu halten, kann dies nicht bei jedem Thema gelingen. Das enthemmte und gleichsam kalkulierte islamistische Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist ein derartiges Thema, bei dem Sie in dieser Sendung ohne die üblichen musikalischen Beiträge auskommen müssen.

Sie hören in dieser Sendung einen Teil eines Vortrags von Mitte April 2024, organisiert vom Münchner Linken Bündnis gegen Antisemitismus. Der vollständige Vortrag findet sich auch in YouTube!

Oliver Vrankovic, der seit knapp 2 Jahrzehnten in Israel lebt und im Übrigen auch Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Stuttgart ist, beschreibt in seinem Vortrag, wie sich der Antisemitismus von allen Seiten, der Horror des 7. Oktober und die Ungewissheit über das Kommende auf die israelische Psyche niederschlagen. 

„Zerrissene Leben“

am Dienstag, den 11. Juni 2024 um 18.30 Uhr in der KZ Gedenkstätte Flossenbürg, Gedächtnisallee 5 | 92696 Flossenbürg (Saal im Bildungszentrum) von und mit Pavla Plachá

Pavla Plachá

Von den knapp 5.000 Ravensbrücker Häftlingen aus der vormaligen Tschechoslowakei sind eher Milena Jesenská (*1896 Prag, † 1944 Ravensbrück) oder die Überlebende Hana Housková (*1911 Prag, † 1995 Prag) öffentlich bekannt. Die erstere als Journalistin und Adressatin zahlreicher Briefe von Franz Kafka in den 1920er Jahren. Die letztere überlebte die KZ-Haft, wurde Aktivistin des sogenannten Prager Frühlings in den 1960er Jahren, verließ 1969 die Kommunistische Partei und sah sich anschließend heftiger Denunziation ausgesetzt. Ihr Text „Monolog“ (1993) weckte das Interesse am Schicksal ihrer Kameradinnen.

Von 1939 bis 1945 wurden etwa 123.000 Frauen und Kinder in das nationalsozialistische Konzentrationslager Ravensbrück (KZ) verschleppt. Früh, nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei, gehörten auch ihre Staatsangehörigen zu seinen Opfern. Diese Häftlingsgruppe hat eine wesentliche Bedeutung für die Geschichte des KZ, zumal neben den politisch Verfolgten der rassistische Terror hier auch Jüdinnen, Sintezze und Romni aus Böhmen, Mähren, der Slowakei und der Karpatenukraine erfasste.

Mit der umfassenden Studie „Zerrissenen Leben“ von Pavla Plachá (Übersetzung aus dem Tschechischen: Marika Jakeš) liegt nun eine wirklichkeitsnahe und historisch abgesicherte Darstellung zu Strukturen in der Gruppe sowie den Schicksalen und wie Überlebenswegen der tschechoslowakischen Ravensbrückerinnen vor. Dabei wird das seit 1948 von realsozialistischen Deutungen geprägte und herrschende Bild der Erinnerung umfassend revidiert.

Zum ehemaligen Konzentrationslager Flossenbürg gibt es mehrere Schnittstellen. So werden im April 1944 knapp 700 nichtjüdische Häftlinge (Polinnen, sowjetische Staatsangehörige und Tschechoslowakinnen) aus dem KZ Ravensbrück in ein Außenlager von Flossenbürg (Helmbrechts) gebracht, um als Zwangsarbeiterinnen in der Rüstungsproduktion (Metallwerk Neumeyer, Nürnberg) eingesetzt zu werden.

Pavla Plachá, Zerrissene Leben, Tschechoslowakische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945; 440 Seiten – Hardcover – € 34,80 – VSA Verlag Hamburg; ISBN 978-3-96488-169-4

www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/de/besuch/informationen

Anreise mit öffentlichem Verkehr: per Bahn bis Weiden (Oberpfalz), von dort 40 Minuten über Land mit Bus 6272 oder 1951 (Richtung Flossenbürg/Silberhütte) bis „Flossenbürg-Gedenkstätte“

Anreise mit PKW: über die Autobahnen A 93 (Regensburg-Hof |Ausfahrt Neustadt an der Waldnaab) oder A 6 (Nürnberg-Pilsen | Ausfahrt Waidhaus)

Wer den Besuch der Lesung an dem Tag nutzen will, um die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg näher kennen zu lernen: Öffnungszeit 9 – 17 Uhr.

265 Queer ohne Jüdinnen und Juden

„Normalerweise versuche ich wegzuhören, mich abzulenken, außer Reichweite der Lautsprecher zu stehen. Eine seit Jahren auf dem Kreuzberger CSD notwendige Praxis, doch dieses Mal funktioniert sie nicht mehr, und ich sitze heulend in einem Hauseingang, weil ich deutlich die Botschaft höre: Als queere Jüdin bin ich hier nicht erwünscht, zumindest nicht, wenn ich mich nicht antizionistisch positioniere.“

Die Sendung basiert auf einem Beitrag aus dem Buch Judenhass Underground, erschienen im Hentrich & Hentrich Verlag. Der Autor ist Stefan Lauer.

An dem Diskurs beteiligen sich: Shygirl, Princess Nokia, Kari Faux, Rico Nasty, Megan Thee Stallion, Iggy Azalea, Ashnikko, Lady Lykez und Chippy Nonstop/Jhawk Productions

Tel Aviv Strand mit LGBTQ+ Fähnchen

264 Die Rückkehr der progressiven Abscheulichkeiten (Teil 2)

Bild von Bruce Emmerling auf Pixabay

Es gibt und gab schon immer auch eine andere Tradition, ein anderes Verständnis davon, was es bedeutet, »progressiv« zu sein und sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, als die in dieser Sendung beschriebene antisemitische. 

Im Jahr 2011 veröffentlichte Fred Halliday auf der Plattform Open Democracy einen Aufsatz mit dem Titel »Terrorism in Historical Perspective«. Es ist das intellektuell und moralisch klarsichtigste Werk zu diesem Thema, das ich kenne. Halliday wandte sich an seine linken Genossen und brachte ein entscheidendes Argument vor: Jede Bewegung, die den Anspruch erhebt, ein unterdrücktes Volk zu vertreten, muss ethisch handeln, auch wenn sie nicht an der Macht ist und sich selbst als schwach empfindet. 

Sexuelle Folter kann nicht antiimperialistisch sein – und sie ist auch keine verständliche, geschweige denn unvermeidliche Reaktion auf Unterdrückung. Ein eliminatorisches Programm ist keine Freiheitscharta. Unterdrückung ist kein Freibrief dafür, Köpfe von Körpern abzutrennen, Hunderte junger Festivalbesucher zu erschießen, Menschen totzuschlagen, Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu ermorden und umgekehrt, nackte Frauen aus nächster Nähe zu töten und Babys und alte Menschen zu entführen; es gibt kein politisches Universum, in dem dies revolutionäre, emanzipatorische oder antikolonialistische Taten sind, und schon gar nicht »schöne«. 

Sadismus und Gewalt sind nicht synonym! Die Geschichte hat immer wieder bewiesen, dass Terroristen und Freiheitskämpfer nicht dasselbe sind, weshalb Erstere nie etwas erreichen, das auch nur annähernd Befreiung oder Gerechtigkeit bedeutet. Es gibt keinen Platz für ein »Ja, aber«. Warum ist das, wenn es um den Tod von Israelis geht, so schwer zu verstehen? 

Es melden sich zu Wort: Ty Segall, Desert Sessions, Jack White, Red Fang, Voice of the Seven Thunders, Zu, Melvins, All Them Witches, The Midnight Ghost Train und Woven Hand.

263 Die Rückkehr der progressiven Abscheulichkeiten (Teil 1)

Susie Linfield

Im Nachgang des größten Massakers an jüdischen Menschen seit der Shoa, am 7. Oktober des letzten Jahres durch die islamistische Hamas, hat sich weltweit gezeigt, auf welche Milieus sich Jüdinnen und Juden nicht verlassen können, wenn sie gegen ihre Auslöschung kämpfen müssen: auf sich links fühlende oder sich links gerierende sogenannte Zusammenhänge, die vom Antisemitismus – zumal dem eliminatorischen – nichts wissen wollen. Wir dagegen wollen Ihnen in dieser und der darauf folgenden Sendung der Redaktion 17grad das Essay der New Yorker Professorin Susie Linfield mit dem Titel „Die Rückkehr der progressiven Abscheulichkeiten“ zur Kenntnis geben. 

Susie Linfield ist außerordentliche Professorin am Arthur L. Carter Journalism Institute der New York University und leitet dort das Programm Cultural Reporting and Criticism. Zuvor war sie Kunstredakteurin der »Washington Post«, Chefredakteurin von »American Film« und stellvertretende Herausgeberin der Zeitschrift »Village Voice«.

Ihr Beitrag erschien im Januar in der Wochenzeitung jungle world und im Original Mitte November 2023 in der australischen Online-Publikation Quillette.

In dem Essay formuliert Linfield eine Abrechnung mit den schockierenden Reaktionen der globalen Linken auf das Massaker vom 7. Oktober. 

Die Abrechnung wird ergänzt durch Beiträge von: Guts Pie Earshot, King Gizzard & The Lizard Wizard, Liturgy, Machine Head, Body Count, Municipal Waste, Death Pill, Ceremony.

262 Kapitalismuss, Klasse und Universalismuss

Vivek Chibber Buch

In welche anti-universalistischen und kulturalistischen Sackgassen identitäre Konzeptionen und damit auch die mittlerweile allgegenwärtigen Denkmuster postkolonialer Theorieversatzstücke führen, haben die weltweiten Reaktionen der Linken auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober des letzten Jahres in Israel schmerzlich vor Augen geführt. 

Von der moralischen Verkommenheit des offenen oder heimlichen Jubels über diesen barbarischen Akt einmal abgesehen, hatten jene, die sich auf der „gerechten“ Seite der Palästinenser verorten und sich gleichzeitig als irgendwie „links“ wähnen, nichts Besseres zu tun, als das Pogrom zu verharmlosen, zu relativieren und, wie sie es nennen, zu „kontextualisieren“. Die ideologischen Grundpfeiler, die dieses linke Totalversagen begründen, wären zu benennen und aufzuarbeiten. 

Musikalische Begleitung: Dykemann Family, Reverend Beat-Man And The Un-Believers, Delaney Davidson, Boz Boorer, HeadCat, zZz, The Legendary Shack Shakers, The Crewnecks.