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Lebenslanges Lernen
Photo by Simson Petrol

Liebe Zielgruppe,
wenn Peter Tauber, der Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union, davon spricht, dass, wer etwas Ordentliches gelernt hat, nicht mehrere Minijobs gleichzeitig brauche, ist das zwar einerseits weit weg von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, andererseits aber spricht er nur das aus, was die mehr als große Koalition der Kapitalismus-Apologeten seit vielen Jahren pre-digt: wer den zunehmenden Unwägbarkeiten des Arbeitsmarktes begegnen will, muss lernen, lernen und nochmals lernen. Ein Leben lang.
Lebenslanges Lernen ist eines dieser Schlagworte, die suggerieren und suggerie-ren sollen, dass beruflicher und damit auch gesellschaftlicher Erfolg oder Miss-erfolg ausschließlich vom Verhalten des Individuums im kapitalistischen Ver-wertungszusammenhang abhängt.
Wer sich bildet oder weiterbildet, der bringt es zu etwas. Wer es zu nichts ge-bracht hat, ist selbst Schuld, weil er oder sie die Grundprinzipen der damit ein-hergehenden Notwendigkeiten nicht berücksichtigt hat.
Interessant an diesem Lern- und Pädagogik-Diskurs ist, dass ihn alle politischen Akteure – gleich welcher Couleur – mit dieser Ausrichtung führen.
Ob nun CDU, Sozialdemokraten, Linke oder Gewerkschaften: sie alle propagie-ren, dass Ausbildung und anschließende permanente Weiterqualifizierung Ga-rantie dafür seien, nicht durch die sozialen Maschen der kapitalistischen Gesell-schaft zu fallen. Dass diese Maschen immer löchriger werden, daran hat die So-zialdemokratie mit all ihren neoliberalen Projekten der jüngsten Vergangenheit einen nicht unerheblichen Anteil. Aber die Aushöhlung des Sozialstaats wollen sie in diesem Zusammenhang nicht thematisiert wissen.
Die Quintessenz dieser Ignoranz objektiver gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse bedeutet: wer sich dem Lerndruck verweigert oder sich nicht genü-gend anstrengt, ist an seinem dann folgenden Schicksal selbst Schuld.
Dabei unterscheiden sich die Ansätze der genannten Akteure nur in Nuancen. Die einen predigen in Verbindung mit neoliberalem Deregulierungsinteresse, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Die anderen fordern ein Quäntchen mehr sozialdemokratischen Versorgungsstaat mit Qualifizierungsgarantie. Für alle, die dies wollen.
Eine Ablehnung dieser Unvollkommenheitslogik, dass nämlich alle Individuen permanent an sich arbeiten müssen, sie also nie auch nur annähernd ausreichend qualifiziert sind, kommt bei allen genannten Gruppierungen nicht vor. Das ist auch nicht verwunderlich, denn dazu müssten sie das System Kapitalismus ver-stehen und auch noch fundamental kritisieren wollen.
Besonders sichtbar ist dieser Kollektivbetrug der hiesigen politischen Protago-nisten beim derzeitigen Dauerthema der Arbeitspolitik: der Digitalisierung.
Während sich die Produktionsbedingungen in fast allen Branchen rasant und massiv verändern, während nicht wenige Auguren mittelfristig ein dramatischen Verschwinden von Berufen und Jobs erwarten, kontern die besagten Politiker mit der Endlosschleife „Qualifizierung wird es schon richten“. Und das, obwohl eine ganze Reihe von gefährdeten Berufsbildern bereits von hochqualifizierten Marktteilnehmern geprägt ist.
Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren eine ganze Erwachsenenbildungsin-dustrie entwickelt, die die Bedingungen ihres Wirkens nicht hinterfragen will oder dazu nicht in der Lage ist.
Eine ganze Generation von im herkömmlichen Sinne gescheiterten Existenzen lebt heute davon, Kurse, Coachings und betreutes Leben anzubieten. Niemand ist perfekt, alle brauchen Optimierung, Widerstand ist zwecklos.

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